Natur- und Umweltschutz in Filderstadt 2003


Naturereignis im Weilerhau
- Floristische Beobachtungen nach dem Sturm "Lothar" -

Dr. Manfred Schacke
Biotopkartierer Filderstadt

Weilerhau einst

Als "Weilerhau" bezeichnet man die Hochebene westlich von Plattenhardt. Schon von der Autobahn aus, von Wendlingen kommend, sieht man diesen horizontbestimmenden und waldbestandenen Bergrücken, der sich bis oberhalb Echterdingens zieht. Als Steilrand begrenzt er die Filderebene nach Westen, senkt sich aber schon bald ins Reichenbachtal hinab. Mit dieser exponierten Lage und seiner klaren Abgrenzung bildet der Weilerhau ein markantes Element unserer Landschaft.

Geologisch stellt er den Bruchrand zum so genannten Fildergraben dar, also das ursprüngliche Niveau des hier anstehenden, wenig fruchtbaren Sandsteins. Die rund 100m tiefer gelegene Filderebene besteht aus jüngerem Gestein, dem Schwarzjura-Kalk, der eigentlich über dem Niveau des heutigen Weilerhaus liegen müsste. Der herrliche Blick über die Fildern zeigt also auch noch eine geologische Besonderheit, nämlich das Absacken ganzer Landstriche in Folge tektonischer Störungen.

Auch archäologisch hat dieses Gebiet einiges zu bieten. Erwähnt seien hier nur die keltischen Grabhügel. Sie wurden gewissermaßen auf einem Balkon errichtet, mit Blick über die fruchtbare Gegend. Das Gräberfeld im Weilerhau zusammen mit der Keltenschanze bei Echterdingen deuten auf eine größere keltische Siedlung in unserem Raum.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Weilerhau, zumindest die zentralen Bereiche des Hochrückens, mit Fichten bepflanzt. Bis vor wenigen Jahren war dieses Gebiet ein düsterer, naturkundlich unergiebiger Ort. Die Spazierwege führten um diesen sehr unattraktiven Wald herum, der nur von drei geraden Forstwegen erschlossen war.

Weilerhau heute

Bekanntlich wütete der Sturm am 2. Weihnachtsfeiertag 1999 auch auf Filderstädter Markung. Allein im Weilerhau fielen diesem nur etwa einstündigen Ereignis Tausende von Kubikmetern Holz zum Opfer. Für die Anrainer aus Plattenhardt und Stetten, die den Weilerhau von unzähligen Spaziergängen her kannten, war der erste Eindruck geradezu schockierend. Der komplette Wald war nämlich verschwunden, man traute kaum seinen Augen. Im nächsten Jahr, als die Wege wieder begehbar waren, konnte man nur noch staunen: Plötzlich schaute man vom Birkenweg beim Bernhäuser Forst auf die Schwäbische Alb und anstatt des hässlichen Fichtenwalds, den man allenfalls als dunkle Masse wahrgenommen hatte, schweifte das Auge nun über eine riesige, höchst interessante Fläche.

"Bild 1" Weilerhau 2001

Der Sturm und die anschließenden Räumarbeiten krempelten den Weilerhau sehr plötzlich und tiefgreifend um: Die grundlegendsten Standortfaktoren, nämlich Licht und Wasser, wurden praktisch ins Gegenteil verkehrt; statt Dunkel herrschte Licht und damit Wärme und das Regenwasser blieb oberflächlich stehen, da wasserundurchlässige Schichten kleinräumig angerissen waren und kein Baum mehr Wasser verdunstete. Große Haufen Reisig und Häcksel boten stellenweise sehr saure, lebensfeindliche Bedingungen.

Da das gesamte Gebiet ohne Wald dastand, fehlte eine geschlossene Pflanzendecke. Mutter Natur war entblößt bzw. hatte ein Loch im Kleid, ein in unseren Breiten eher seltenes Schauspiel. Alle Pflanzen der Umgebung hatten nun die Chance neuen Lebensraum zu erobern, wobei es beim Start kaum Konkurrenz gab. Das Ergebnis war dann im Sommer 2001 zu bestaunen, als sich allerlei Pflanzen in völlig "unnatürlicher" Weise präsentierten: Einzelgänger traten in großen, artenreinen Herden auf und es vergesellschafteten sich wiederum andere, die sich normalerweise aus dem Weg gehen. So konnte man mehrere Quadratmeter große Reinbestände von Kuckucks-Lichtnelken oder Margeriten sehen und an anderen Stellen wuchsen feuchtigkeits- und trockenheitsliebende Pflanzen in einem abwechslungsreichen Mosaik nebeneinander.

Das Naturereignis "Lothar" schuf zunächst einen Sonderzustand, der im Grunde als Zustand der Regellosigkeit verstanden werden muss, was ja auch den besonderen Reiz ausmacht. Die bisher geltenden (Lebens-)Bedingungen waren schlagartig außer Kraft gesetzt, sodass es im Folgejahr für die Erstbesiedler praktisch keine Einschränkungen oder Regeln gab. Ein Zustand, der zwar natürlich, aber nicht normal ist und deshalb nicht lang anhalten wird. Aus der anfänglichen Rangelei um Licht und Boden wird sich wieder eine Pflanzengemeinschaft herausbilden, die sich mit den Gegebenheiten optimal arrangiert, aber gleichzeitig alle anderen Pflanzenarten ausgrenzt. Ohne Zutun des Menschen wird dies ein standortgemäßer Wald sein.

Doch bis dahin können wir Zeuge einer rasanten Veränderung, einer hohen Biodynamik sein. Wie in einem gigantischen Trickfilm, der mit der Geschwindigkeit von einem Bild pro Jahr läuft, präsentiert sich dieses Schauspiel des Wandels vom Offenland zum Wald.

Vergangenen Sommer konnten wir uns "Bild 2" anschauen, also den Zustand nach zwei Vegetationsperioden, wir hatten wieder ein buntes Blumenmeer und weite Sicht. Aber schon bei "Bild 7" wird sich das meiste radikal verändert haben; aufgekommene Jungbäume bilden dichte Gehölze und verhindern den freien Blick über die ehemalige Sturmfläche. Dann wird es allmählich immer lichter werden, bis wir in etwa 50 Jahren den neuen Wald als besonderen Raum genießen können.

"Bild 2" Weilerhau 2002

Natürlich ist es interessant hier zu kartieren, denn neben der Inventarisierung der Pflanzenarten können wir auch deren Dynamik, d.h. ihre Zu- und Abnahme sehr genau dokumentieren.

Im ersten Sommer nach dem Abräumen, also im Jahr 2001, bestimmten wir im zentralen Bereich der Sturmfläche (ca. 15-20 Hektar) über 120 Pflanzenarten, und zwar eben dort, wo wir 1999 vielleicht 15-20 Arten kartiert hätten. Im Sommer 2002 waren es schon über 180 Arten!

Neben dieser unerwartet hohen Anzahl an Arten war noch etwas anderes interessant. Der Sturm und die anschließenden Räumarbeiten hatte ein buntes Mosaik verschiedener Kleinlebensräume geschaffen. Einige Beispiele dieser Vielfalt möchte ich hier kurz schildern.

Wir fanden kleine Tümpel und Pfützen, die schon richtige Gesellschaften ausgebildet hatten. Neben Wasserstern, sechs verschiedenen Binsenarten waren die Moorbinse (Isolepis) und die Bleiche Segge die interessantesten Funde. Stellen mit größerem Wasseraufkommen waren vom Breitblättrigen Rohrkolben besiedelt, aber auch anspruchsvollere Arten, wie z.B. das Helmkraut, der Brennende Hahnenfuß, Sumpf-Ziest und Sumpf-Pippau ließen sich finden.

Große Teilgebiete standen unter dem Regime typischer Pflanzen der Waldschläge, so das auffällig purpurfarbene Schmalblättrige Weidenröschen, das Wald-Kreuzkraut und der Rote Fingerhut, begleitet von Hain-Greiskraut, Knotiger Braunwurz und Mädesüß.

Warme, sonnnenbeschienene Randbereiche und Säume bevorzugten das Schöne Johanniskraut und drei weitere Johanniskrautarten, der Färber- und der Deutsche Ginster, verschiedene Disteln und Sternmieren, das Eisenkraut, ja sogar die Rapunzel-Glockenblume.

Auf Rohböden entdeckten wir unter vielen anderen fünf Ampferarten, das Sumpf-Ruhrkraut, den recht seltenen Vaillants Erdrauch, verschiedene Kleearten und die bekannten Pionierarten, wie z.B. das Kriechende Fingerkraut oder den Breitwegerich.

Es gab aber auch Stellen, wo noch der alte, nährstoffarme Waldboden erhalten geblieben ist, mit den typischen Vertretern, wie z.B. Heidekraut, Echter Ehrenpreis, Drahtschmiele und Heidelbeere.

Spazierte man durch das Kerngebiet auf den drei ehemaligen Forstwegen, die von den Joggern nicht benutzt werden (können), so befand man sich fast unsichtbar "mitten in der Botanik" und wähnte sich in einem Botanischen Garten, wo auf kleinstem Raum maximale Abwechslung geboten ist.

Diese Vielfalt an Standorten und das neue Nahrungsangebot war auch für Tiere sehr attraktiv. Das Rehwild fand sich bald ein, inzwischen auch die Wildschweine.

Zu den Vögeln wird Eberhard Mayer im nächsten Jahr Genaueres sagen.

Weilerhau morgen

Schon in diesem Sommer 2002 zeichnete sich ab, was aus dem Pflanzenparadies der Kernzone im Weilerhau werden wird. Der Kampf ums Licht entscheidet, wer hier bleiben kann. Da hier Baumwuchs möglich ist, werden die Gehölze gewinnen und die Pflanzendecke bestimmen. Die Pflanzen des offenen Geländes werden hier fast restlos verschwinden. Auch die Kleingewässer werden aufgrund der erhöhten Verdunstung abgehen, wobei ihre pflanzlichen Begleiter schon aufgrund der Beschattung zugrunde gehen werden.

Derzeit haben wir über 30 verschiedene Gehölzarten im Weilerhau, einige davon wurden auch gepflanzt. Auch wenn der Mensch von Fall zu Fall eingreifen wird, um unerwünschte Baumarten zu entfernen bzw. den erwünschten Vorteile zu verschaffen, können wir davon ausgehen, dass hier ein naturnaher und damit attraktiver, aber auch robuster Laubmischwald entstehen wird.

Wenn unsere heutigen Kinder in 50 Jahren durch den Weilerhau streifen, erleben sie einen herbstbunten, abwechslungsreichen Laubwald, der schon im Frühjahr mit den ersten Blumen und Vogelgezwitscher aufwarten kann. Kaum einer weiß dann, dass ihre Eltern mit Schaudern an diesen Ort dachten, wo düster sich ein Fichtenforst behauptete und kein Vogel erklang. Vielleicht werden sie den neuen Wald einmal besonders mögen, weil er in ihrer Kinderzeit, zur Zeit der Jahrtausendwende, so schön hell und voller Blumen war... früher halt!


Home nach oben

© Biotopkartiergruppe. Alle Rechte für Texte und Fotos vorbehalten.