In der Theorie . . .

ist eigentlich alles ziemlich einfach: Artenschützer, wie z.B. die Freunde aus der örtlichen Biotopkartiergruppe in Filderstadt, die Mitarbeiter/innen des Umweltschutzreferats und viele andere amtliche und ehrenamtliche Helfer schützen bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Sie fördern seltene Vogelarten durch Bereitstellung von Nisthilfen, schützen Fledermäuse vor Verfolgung, helfen gefährdeten Amphibien und Reptilien, sichern Biotope für Schmetterlinge und andere Insektenarten, erhalten und pflegen Orchideen-Standorte und Feuchtstellen, und ... und ... und ....

In der Praxis . . .

sieht aber manches ganz anders aus. Man kann eben nicht nur Vögel schützen und dabei die Auswirkungen auf andere Tierarten großzügig übersehen. Man kann auch nicht einseitig bestimmte Pflanzenarten fördern und dadurch in Kauf nehmen, daß sich ein Lebensraum für andere Pflanzen und Tiere, die ebenfalls bedroht oder gar geschützt sind, nachhaltig verändert. Ein ähnliches Problem stellte sich uns im Sommer 1998, und das geschah so:

Am 16. Juni 1998 . . .

rief mich der Hobbylandwirt Siegbert Maier an und teilte mir ganz aufgeregt mit, daß in seiner Feldscheune in Plattenhardt eine Schleiereule brüte und daß er bereits ein Gelege mit 3 Eiern vorgefunden habe.

Zur Vorgeschichte:
Der große und schwere Nistkasten wurde 1990 durch die Biotopkartiergruppe in der Scheune montiert, nachdem hier mehrfach Turmfalken an der Außenseite des Gehöfts gebrütet hatten. Zwar nutzten daraufhin immer wieder Schleiereulen die Kiste als Tageseinstand, es dauerte aber bis zum Frühjahr 1996, bis endlich eine Eulenbrut stattfand. Die Freude war aber nur von kurzer Dauer: von den 6 Eiern wurden nur 4 ausgebrütet; nacheinander wurden alle 4 Jungvögel und sogar 1 Altvogel tot im Kasten oder in der Scheune aufgefunden. Die Todesursache blieb ungeklärt: äußere Verletzungen waren nicht zu erkennen, so daß eine Vergiftung als wahrscheinlichste Annahme galt.

Die Freude unseres Landwirts und auch die eigene Freude war also verständlich. Endlich wieder eine Brut, und hoffentlich klappt dieses Mal alles viel besser mit der "Nachwuchsförderung"! Wir verabredeten uns so, daß wir die Eulen in nächster Zeit beim Brutgeschäft nicht stören wollten und daß wir frühestens in 4 Wochen wieder eine Kontrolle vornehmen . . .

Am 2. August 1998 . . .

rief mich Siegbert Maier wieder an. Er war noch glücklicher als einige Wochen zuvor und sein Stolz war nicht ohne Grund: vor seinem geplanten Urlaubsbeginn hatte er noch kurz in den Nistkasten geschaut und dabei vier bereits geschlüpfte Jungeulen festgestellt. Wir waren nun zuversichtlich, daß wir 1998 einen größeren Bruterfolg als zwei Jahre zuvor erwarten konnten und einigten uns darauf, die nächste Kontrolle nach seiner Urlaubsrückkehr in drei Wochen vorzunehmen . . .

Am 25. August 1998 . . .

gingen wir abends gemeinsam zur Feldscheune - in freudiger Erwartung und ziemlich aufgeregt. Als wir das Scheunentor öffneten und zum Einflugloch hochblickten, stockte uns der Atem. Dort oben herrschte reger Flugverkehr, aber nicht von und mit Schleiereulen, sondern mit kleineren "Flugzeugen", die wir ganz und gar nicht erwartet hatten: es handelte sich um ganze Scharen von Hornissen, die pausenlos in den Nistkasten hinein- und wieder herausflogen.

"Was tun?" fragten wir uns, denn wir wollten natürlich wissen, wie es um unsere Schleiereulen stand. Gleichzeitig war uns aber auch klar, daß die Öffnung der Holzkiste zu Kontrollzwecken eine nicht ganz ungefährliche Angelegenheit werden könnte, wenn nämlich die Hornissen sich durch unsere Störung bedroht fühlen würden. Nachdem wir im Innern der Scheune eine Leiter an die Holzkiste gestellt hatten und uns vorsichtig annäherten, öffneten wir den "brummenden" Kistendeckel ganz behutsam um einen kleinen Spalt und entdeckten folgendes: mehrere junge Schleiereulen (vier oder fünf?) saßen eng zusammengekauert in der linken Ecke des Kastens - den meisten Platz in der Holzkiste nahm aber ein riesiges Hornissennest ein, das von der gegenüberliegenden Ecke aus in den "Wohnraum" hineinragte. Schnell schlossen wir wieder den Nistkasten und fragten uns voller Sorge: was wird jetzt aus den Eulen? Sind sie durch die Hornissen gefährdet? Wenn ja, können wir die Eulen retten, ohne daß wir selbst oder die Hornissen Schaden nehmen?

Wir beschlossen, das Problem am folgenden Tag mit Fachleuten zu besprechen und danach eventuelle Sofort-Maßnahmen zu ergreifen, denn die Zeit drängte . . .

Der 26. August 1998 . . .

war tagsüber ausgefüllt mit Telefonaten, Besprechungen und Terminabsprachen. Informiert und um Mithilfe gebeten wurden das örtliche Umweltschutzreferat (Frau Krüger), die "Artenschutzgruppe Schleiereule" im Bezirk Esslingen-Nürtingen-Filder (Herr Breuninger), die Untere Naturschutzbehörde beim Landratsamt Esslingen (Herr Blanz) und die durch das Landratsamt hinzugezogene Hornissen-Fachfrau bzw. Hornissenumsiedlerin (Frau Weber). Die Experten waren sich zwar nicht völlig sicher, sie vermuteten aber, daß die Eulen aus folgenden Gründen gefährdet waren:

Aus diesen Gründen sprachen sich die Beteiligten dafür aus, daß dem Eulennachwuchs auf jeden Fall geholfen werden müsse; schließlich stellen Schleiereulen in Filderstadt eine Rarität dar und gelten nach einigen "mageren" Brutjahren als absolut "förderungswürdig". Hier aber begann der Interessenskonflikt: natürlich war allen bekannt und bewußt, daß auch die Hornissen als geschützte Tierart keine Nachteile erleiden dürfen und vom Schutzwert her genauso hoch einzustufen sind! Man einigte sich deshalb darauf, daß wegen der gebotenen Eile sich alle obengenannten Beteiligten abends am "Tatort" treffen und vor Ort eine Lösung des Artenschutzkonflikts suchen sollen. Vorsichtshalber wurde bei der Greifvogel-Aufzuchtstation in Mössingen nachgefragt, ob eine eventuelle Einlieferung und Aufzucht von Jungeulen möglich ist (Ergebnis: positiv!).

Am Abend des 26. August 1998 . .

versammelten sich sieben Personen an der Feldscheune, um das "Problem" zu lösen:

Natürlich wurde die Schutzbedürftigkeit beider Tierarten als gleichrangig betrachtet; hinzu kommt, daß die Eulen als Mäusejäger und die Hornissen als Feind von Obstbau- und Forstschädlingen für Land- und Forstwirtschaft gleichermaßen nützlich sind. Als Lösung kamen deshalb nur zwei Alternativen in Frage:

Nachdem sich die Hornissenumsiedlerin und der Schleiereulen-Experte mit Schutzanzügen und -masken ausgestattet hatten, begann die spannende Hilfsaktion. Schnell stellte sich heraus, daß an diesem kühlen Abend mit relativ starkem und kaltem Wind wenig Hornissen-Flugverkehr herrschte. Wir entschlossen uns deshalb nach Öffnung der Holzkiste und auf Empfehlung von Frau Weber kurzfristig zu Lösung 2, also zur Umsiedlung der jungen Schlei-ereulen. Nach weniger als 10 Minuten waren alle Jungvögel in einer großen Kiste verfrachtet: zu unserer großen Überraschung stellte sich heraus, daß insgesamt acht Jungeulen - eine erfreulich hohe Zahl! - im Nistkasten wohnten und sich bisher in einem erstaunlich guten Ernährungs- und Gesundheitszustand befanden. Die größten Vögel waren etwa vier Wochen alt, das jüngste Geschwister war noch winzig und dunenweiß. Schnell machten wir noch einige Fotos und dann gingen die Plattenhardter Eulen auf die Reise zur Aufzuchtstation nach Mössingen, wo sie noch am selben Abend durch den Artenschutzbeauftragten des Landratsamts eingeliefert wurden.

Im September 1998 . . .

besuchten wir unsere Sorgenkinder, also die jungen Schleiereulen, insgesamt dreimal in ihrem neuen Domizil in Mössingen. Die dortige Aufzuchtstation (ZENTRUM FÜR VÖGEL GEFÄHRDETER ARTEN) widmet einen Großteil ihrer Zeit für die medizinische Versorgung und Therapie verletzter oder für die Aufzucht und Pflege beschlagnahmter Vögel, um sie nach entsprechender Vorbereitung und Gewöhnung wieder in die Freiheit zu entlassen.

Wir konnten uns davon überzeugen, daß die Eulen fachmännisch und artgerecht gehalten und aufgezogen wurden. Alle acht Tiere gediehen prächtig und hatten schon bald ihre letzten Dunenfedern abgelegt. Sie sahen gesund und gutgenährt aus und verbrachten die Tageszeit in einer dunklen Ecke ihrer Voliere oder im Nistkasten. Behutsam wurden sie an ein selbständiges Leben in Freiheit vorbereitet und gewöhnt, denn sie sollten ja noch vor dem ersten Wintereinbruch freigelassen werden.

Wir konnten uns mit den Betreuern und mit dem Leiter der Aufzuchtstation unterhalten und legten dann auch gemeinsam fest, daß wir die Schleiereulen doch nicht - wie ursprünglich geplant - in Filderstadt auswildern, sondern in Mössingen entfliegen lassen. Drei Gründe sprachen nach Ansicht der Experten dafür:

Am 13. Oktober 1998 . . .

war es dann soweit: unsere Eulen wurden am Abend in Mössingen in die Freiheit entlassen. Beringt und unter Aufsicht der Betreuer verließen sie die Aufzuchtstation, die ihre zweite Heimat geworden war. Immer wieder kehrten in den nächsten Tagen einzelne Vögel in die Nähe der Station zurück, um sich noch "auf bequemere Art" mit Nahrung zu versorgen. Bisher gab es Gott sei Dank noch keine Verlustmeldungen . . .

Resumee . . .

Alle an der Artenschutz-Aktion Beteiligten hoffen, daß sie sich richtig verhalten haben und daß die Umsiedlung, Aufzucht und Auswilderung in der Pflegestation das Leben der jungen Schleiereulen sicherer gemacht hat als das ungewisse Verbleiben in der unmittelbaren Nachbarschaft des Hornissenvolks. In der Natur, also "im richtigen Leben", gibt es eben immer wieder Überraschungen, auf die auch die Artenschützer nicht unbedingt ausreichend vorbereitet sind und wo schnelle Entscheidungen gefragt werden. In jedem Fall haben wir versucht, den Konflikt zwischen zwei bedrohten Tierarten zufriedenstellend für beide Seiten zu lösen.

Zum Schluß noch eine Bitte:

die Aufzuchtstation in Mössingen ist eine sehr sinnvolle und interessante Einrichtung, die auch regelmäßig bei freiem Eintritt besucht werden kann ( Mo - Fr von 8 Uhr bis 17 Uhr, im Sommerhalbjahr auch sonntags von 10 Uhr bis 16 Uhr). Als Träger fungiert der NABU (Naturschutzbund Deutschland) mit den Kreisverbänden RT, TÜ und BL. Über die dortigen Aktivitäten wurde auch bereits im Fernsehen berichtet. Ein großer Teil des Unterhalts wird durch Eigenleistung und ehrenamtliche Helfer bestritten; über Spenden oder einen Beitritt zum Förderverein freuen sich die Betreiber. Geleitet wird die Station durch Experten, die u.a. in der Vogelschutzwarte Radolfzell ausgebildet wurden. Verletzte, hilflos aufgefundene oder aus dem Nest gefallene Vögel aller heimischen Arten können in der Station eingeliefert werden. Kontaktadresse:

Zentrum für Vögel gefährdeter Arten

Ziegelhütte

72116 Mössingen

Telefon: 07473 / 1022 Telefax: 07473 / 21181

Anfahrt: auf der B27 über Tübingen, Dußlingen nach Ofterdingen. Nach Ortsende links abbiegen und weiter in Richtung Mössingen. Den Ort durchfahren und den Wegweisern nach Talheim und Mägerkingen folgen. 1 - 2 km nach Mössingen erreicht man die Ziegelhütte mit dem ausgeschilderten Vogelschutzzentrum.

Anmerkung:

Falls wir mit diesem Bericht Ihr Interesse am Artenschutz und speziell an den beiden bedrohten Tierarten Schleiereule und Hornisse geweckt haben, weisen wir Sie auf unsere Schriftenreihe FILDERSTÄDTER MITTEILUNGEN AUS UMWELT- UND NATURSCHUTZ (Naturkundliche Jahreshefte) hin. Alljährlich erscheinen darin Beiträge über gefährdete einheimische Tier- und Pflanzenarten, unter anderem:

1991: Schleiereulen - auch in Filderstadt bedroht (von E. Mayer)

1992: Hornissen - zu Unrecht verfolgt (von A. Wagner).

Filderstädter Mitteilungen aus Umwelt- und Naturschutz 1998/1999


Artenschutzprobleme oder was ist wichtiger:
Eule oder Hornisse?

Eberhard Mayer
Biotopkartierer Filderstadt


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